Jahreslosung 2025

Auslegung

Die folgende Erzählung von Josef Herbasch ist auf die Jahreslosung angepasst und orientiert sich nur an der Grundaussage der Jahreslosung. Der biblische Kontext ist hier nicht berücksichtigt. Die Erzählung beschreibt eine Situation an einer Grundschule, in einer dritten Klasse.

Corinna Sipple

Luis drängelt sich immer vor. Luis nimmt sich immer als erster etwas, wenn die Lehrerin etwas zu verschenken hat. Luis hat nur wenige Freunde in seiner Klasse. Nur wenige mögen ihn.

So geht es auch Anni. Anni ist sehr schüchtern und hat ebenso nur eine echte, dicke Freundin in ihrer Klasse. Die zwei mögen sich und sie tuscheln auch gerne. Eines Tages tuschelt Anni ihrer Freundin Selena ein Erlebnis zu, was Luis in einem vollständig neuen Licht erscheinen lies.

Am Tag zuvor war Anni, nachdem die Schule zu Ende war, nicht von ihrem Papa abgeholt worden. Normalerweise nahm er sie immer nach der Nachmittagsbetreuung mit nach Hause. Gestern konnte er Anni nicht abholen, weil er noch einen Termin bei einem Kunden hatte. Anni wusste was in so einem Fall zu tun war, stieg aber trotzdem etwas unsicher in den Linienbus ein, den sie auch morgens zur Schule nahm. Leider war dies das Problem, denn der Bus fuhr in die falsche Richtung weiter. Erst bei der Endstation traute sich Anni auszusteigen, da die Busfahrerin sie bat auszusteigen.

Sie kannte sich überhaupt nicht aus in diesem Wohngebiet, in das sie der Bus gebracht hatte. Sie sah aber ein paar Kinder spielen. Darunter war auch Luis, der Drängler – so nannten sie Luis, also Anni und ihre Freundin Selena.

Luis spielte mit einigen Kindern Fußball. Plötzlich flog der Ball in Richtung Anni. Ausgerechnet jetzt, wo sie ja sowieso nicht wusste und verzweifelt war, was sie nun tun sollte. Einige Kinder kamen angerannt und baten sie, ihnen den Ball zuzuspielen.

Mit dem Schulranzen auf dem Rücken traf Anni den Ball nicht richtig, rutschte aus und flog mit samt ihrem Schulranzen zu Boden. Sie begann zu weinen.

Und jetzt erlebte sie einen Moment, der – bildlich gesprochen – aus einer Raupe in einem Kokon einen Schmetterling macht oder der das „schwarze Schaf“ plötzlich ganz anders aussehen lässt.
Luis sah sofort, dass Anni am Boden lag und weinte. Er rannte zu ihr, half ihr auf die Beine und fragte sie, ob sie sich weh getan hat. Anni war überrascht, dass Luis mit ihr sprach und so hilfsbereit zu ihr war. Als Luis ihr anbot, sie erstmal zu sich nach Hause zu bringen, nickte Anni.

Mit Luis ging nicht nur Anni, sondern auch noch zwei weitere jüngere Kinder, die noch im Kindergartenalter waren. Anni kannte sie beide nicht mit Namen. Bei Luis zu Hause angekommen, half dieser seinen kleineren Geschwistern aus den Schuhen und bat sie, sich die Hände zu waschen. Er erklärte ihnen, dass er seiner Klassenkameradin Anni erst helfen wolle und bat sie um etwas Geduld, bis er mit ihnen spielen würde.

Luis erklärte Anni, dass sie immer auf ihre Eltern warten müssen, bis sie von der Arbeit nach Hause kommen. Seine Mutter arbeitet als Krankenschwester und sein Vater arbeitet in einem Pflegeheim. Dort haben sie häufig sehr lange Arbeitsschichten. Trotzdem rief Luis seine Mutter an und fragte, ob sie ihm helfen könne Anni nach Hause zu bringen. Luis Mutter entschuldigte sich, aber sie konnte nicht helfen, da sie noch einige Patienten versorgen und auf ihren Kollegen warten müsse. Luis solle Annis Eltern anrufen, doch Anni wusste nicht die Telefonnummer ihrer Eltern. Sie wusste nur, wo sie wohnte. Luis schlug Anni vor so lange zu bleiben, bis sein Vater von der Arbeit kommt, der würde sie dann nach Hause bringen. In der Zwischenzeit würde er noch etwas zum Essen vorbereiten.

Anni nahm die Einladung zum Abendessen gerne an. Als Luis Vater von der Arbeit kam brachte er Anni gleich nach Hause. Annis Eltern waren sehr froh, dass ihrer Tochter nichts passiert war.

Selena konnte es erst gar nicht glauben, dass Luis, der Drängler so nett zu Anni gewesen war und dass er sich so fürsorglich und ja – man will es nicht sagen – erwachsen um seine Geschwister kümmerte. Von da an sieht Anni immer erst genauer hin und prüft alles, bevor sie zu einem Urteil über einen Menschen kommt.

©Corinna Sipple, 2025